14.02.19

Verdient oder geschenkt?

Denkanstoß Februar 2019 von Pfarrer Stefan Schwarzer, Evang. Kirchengemeinde Oberesslingen

Wenn jemand einer Arbeit nachgeht, für die er angestellt wurde, und dafür seinen vertraglich vereinbarten Lohn erhält, so werden wir sagen: Das ist richtig und recht, und der Mensch hat das für seine Arbeit verdient. Dieses „sich verdienen“ beziehen wir Menschen auf vieles: Die kalte Cola, wenn man die Berghütte erreicht – verdient. Nach getaner Arbeit ausruhen – verdient. Beliebig ließen sich die Beispiele aneinanderreihen und man kommt dann vom Kleinen zum Großen: Das gute Essen, das schöne Fahrrad, das Auto, der Urlaub, das Haus und, und, und – verdient! Und habe ich nicht auch ein gelungenes, langes Leben verdient?

Versuchen wir einmal, uns möglichst schonungslos die Frage zu stellen: Habe ich dieses oder jenes verdient? Natürlich stellt sich auf der Berghütte das Gefühl ein, nach erbrachter Leistung die kalte Cola verdient zu haben. Aber warum eigentlich? Weil wir einen Berg hochgerannt sind?

Angenommen, wir sind Teil einer willkürlich agierenden Natur, dann steht uns nichts, einfach gar nichts zu. Dass wir im Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens uns auf ein paar Dinge einigen und z.B. einen vereinbarten Lohn bezahlen, ist dem Zweck des individuellen Überlebens dienlich. Doch eines fremden Tages werden wir sterben, wie alle Menschen und alles Lebendige vor uns auch, das ist der normale so genannte Lauf der Dinge. Wir sind frei, uns mit unseren Mitteln und Möglichkeiten für das Leben zu engagieren, wir sind frei, Menschenrechte einzufordern, wir sind frei, bei der Diagnose einer unheilbaren Krankheit möglichst lange gegen diese anzukämpfen. Doch die Behauptung, wir hätten es verdient, so oder so alt zu werden, so oder so zu sterben, scheint mir nicht begründbar. In diesem Sinne gäbe es dann auch keinen Schicksalsschlag, sondern nur sehr unterschiedlich verlaufende Leben. Das eine lange, das andere kurz, mal ein Sterben in Frieden, mal ein grausamer Tod.

Erschreckend, diese Gedanken? Mich haben sie erst mal erschreckt, doch nach und nach entwickelte sich aus ihnen etwas für mich sehr Hilfreiches: Die große Frage nach dem „Warum?“ erübrigt sich. Warum trifft es mich? Warum so früh? Warum so schnell? All die Warums erübrigen sich, wenn man zu einer Haltung findet, aus der heraus man sagen kann: Es steht mir nichts zu. Leben kommt und geht, ich bin ein Teil davon, unverdientermaßen lebe ich und werde irgendwann wieder weg sein. Warum eine Zellmutation zu einem Tumor wird, warum das Kind plötzlich auf die Straße rennt und von einem Auto überfahren wird – die Naturwissenschaften können auf manche dieser Fragen Antworten geben, doch auf der Ebene der Sinnsuche sind keine Antworten möglich. Es ist schwer, diese Antwortlosigkeit auszuhalten, doch es wird leichter, wenn man lernt, immer weniger nach dem Warum zu fragen.

Unfähig, mich selbst zu versorgen, haben meine Eltern mir jahrelang das Überleben ermöglicht, und sie haben viele Dinge getan, durch die ich Freude erlernen und erleben konnte. Geschwister, Großeltern, Freundinnen und Freunde, viele andere Menschen spielen für die eigene Biografie im Laufe der Jahre eine Rolle. Die erste große Liebe und der Kummer, wenn sie zerbricht, zeigen, wie ein Mitmensch zu einem wundervollen Gegenüber wurde und doch auch Anlass zu großem Schmerz sein kann. So erfassen wir Menschen im Laufe der Jahre die Ambivalenz unseres Daseins, haben diese und jene Ansprüche an alles Mögliche und Unmögliche, finden gerecht, was uns Gutes geschieht, und ungerecht, was uns Schwieriges widerfährt.

So weit, so normal, und dann lässt mich eine große Trauer spüren, dass all das „Warum? Warum? Warum?“ nichts bringt und es keine Antworten gibt, einerseits. Und andererseits macht sie mir klar, dass ich lebe: Jetzt und hier. Was habe ich nicht schon alles erlebt in der Zeit, die ich bis zum heutigen Tage hatte. Ja, da ist die Trauer über einen frühen Tod, doch zugleich tiefe Dankbarkeit dafür, dass dieser Mensch an meiner Seite war, mit mir zusammen das Leben gestaltet hat. Ja, da sind schwierige Erfahrungen, mit mir selbst, mit anderen, und zugleich so viel Gutes, das Menschen mir bescherten. Ich lebe, bin da und atme, bis auf Weiteres: Vermutlich wird uns eine Haltung der Dankbarkeit sehr viel hilfreicher sein, mit den Geschichten, die das Leben schreibt, klar zu kommen, als eine Anspruchshaltung, die dem eigenen Denken suggeriert, uns stünde ein Leben ohne Krankheit, Leid und Schmerz zu.

Als Christenmensch ist nicht alles einfacher, aber mir scheint, der Zugang zur Dankbarkeit ist weiter geöffnet als ohne einen religiösen Bezug: Im Glauben an eine Kraft, groß genug, unsere Welt zu schaffen, und doch in solcher Weise liebend, dass sie uns Menschen im Einzelnen sieht und in sich birgt, in diesem Glauben nehme ich das Leben als geschenktes Leben dankbar an. In einem theologischen Sinne stehe ich dazu, auch wenn es sich doch sehr pathetisch anhört, von einem Leben aus Gnade zu sprechen und darum in der Dankbarkeit die einzige angemessene Haltung zu sehen. Dankbar nicht für das Hässliche, nicht für den – ja: eben doch Schicksalsschlag, aber für das Dasein, jetzt und hier.